Brothertiger
KONZERT
Eine Autofahrt durch die Wüste mit heruntergelassenem Fenster. Anmutige Surfer, die durch blaue Wellen gleiten. Eine Vorstadtstraße, die nur schummrig von Straßenlaternen beleuchtet wird. Die Sonne als großer runder Ball, der über einem fernen Horizont schimmert – das sind nur ein paar Bilder, die Brothertiger hervorzaubert, das wundervolle neue Album des gleichnamigen, in Brooklyn ansässigen Elektro-Künstlers. Das Album vereint eine Handvoll Singles, die in den letzten anderthalb Jahren veröffentlicht wurden, plus mehrere unveröffentlichte Tracks. Es begleitet John Jagos, auch bekannt als Brothertiger, dabei, wie er sich von seinen Chillwave-Wurzeln in den raffinierten Sophisti-Pop bewegt – einem in Großbritannien geborenen Mikrogenre – dem er stets treu bleibt. Dessen Blütezeit in den 80ern und 90ern war geprägt von wichtigen Veröffentlichungen von Bands wie Prefab Sprout und Scritti Politti. Brothertigers Interpretation des Genres ist purer Eskapismus – makellos konstruierte, retro-angepasste Songs für romantische Vagabunden und urbane Tagträumer gleichermaßen. Es sind wohl die beeindruckendsten Songs, die Jagos je gemacht hat. Jagos hat unter dem Pseudonym Brothertiger bereits vier Alben veröffentlicht, außerdem mehrere EPs, ein Tears for Fears-Coveralbum und eine vierteilige Serie aus Live-Stream-Improvisationen namens Fundamentals. Trotzdem hat er sein neuestes Album nach sich selbst benannt, was eigentlich dem Debütwerk eines Künstlers vorbehalten ist. Nachdem man aber etwas Zeit mit den opulenten Klangland-schaften der Platte verbracht hat und erfährt, wie viel Persönliches in der Kreativität der Platte liegt, versteht man: Die Brothertiger-LP ist ein Beweis für Jagos‘ technisches Können, ein perfekt inszenierterHöhepunkt seiner ehrgeizigen Experimente und nostalgischen Obsessionen. Es leitet auch eine neue Ära für einen Songwriter ein, dessen Synthpop oft nur darauf reduziert wurde, nachdenklich und introspektiv zu sein.
Wie viele Künstler*innen, die in Städten wohnen, hat Jagos die ersten Tage der Pandemie in ständiger Unruhe verbracht. Das ändert sich, als er beginnt, eBay nach Vintage-Instrumenten zu durchforsten und ein paar Synthesizer und Sampler aus der Sophisti-Pop-Ära ergattert, die von einer inzwischen aufgelösten Firma namens Ensoniq hergestellt wurden. Ausgestattet mit einem verrückten neuen Klangvokabular schrieb Jagos Dancer on the Water, eine elegante, schnelle Küstenfantasie mit schillernden Synthesizern und verschnörkelten Panflöten. Als er den Titel im Frühjahr 2021 als Single veröffentlichte, waren neue Fans und langjährige Zuhörer von seinem unbefangenen Optimismus und seiner nostalgischen Wohlfühlenergie hingerissen. „Ich dachte, ich möchte eine Zeit lang solche Musik machen und sehen, was passiert“, erklärt Jagos. Was „passierte“, war eine Art Magie: Mit unerwarteter Leichtigkeit strömten neue Lieder aus ihm heraus. Jagos schrieb das mitreißende Herzstück des Albums, Heaven, über den spirituellen Burnout, den er erlebte, nachdem er in der katholischen Kirche aufgewachsen war. Das Highlight der ersten Hälfte Be True verbindet ermutigende Texte über
Selbstgenügsamkeit mit vollen Klavierakkorden und kitschigen Synth-Arpeggios. Wenn die Hooks nicht so knackig wären oder Jagos nicht so überzeugend klingen würde, könnte das leicht melodramatisch wirken. In seinen Händen ist es echt bewegend. „Ich fühlte mich mit meinem Songwriting stärker verbunden als je zuvor“, erinnert er sich. Diese Selbst-Verbundenheit war so ansteckend, dass sie zu sehr produktiven Sessions mit unerwarteten Kollaborateuren führte, darunter Math-Rock-Gitarristin Yvette Young (Covet) und Metalcore-Ikone Spencer Chamberlain (Underoath), mit denen Jagos über Instagram in Kontakt trat. Young begleitet Brothertiger für ein euphorisches Cover eines wenig bekannten Titels der britischen Geschwister Sophie und Peter Johnston aus dem Jahr 1987, während Chamberlain ungewöhnlich gedämpfte Vocals zum Midtempo-Tears-for-Fears-artigen Yesterdays beisteuert.
Jagos und sein Co-Produzent Jon Markson (Drug Church, Cathedral Bells, Can’t Swim) nahmen die minutiösen Details der Produktion äußerst ernst – und das lässt sich in den gewissenhaften Arrangements von Brothertiger hören: Jedes Hi-Hat- und tonhöhenverzerrte Sample fühlt sich bewusst und essentiell an. „Ich bin wirklich stolz darauf, wie detaillreich alles ist“, sagt Jagos. Aber Jagos hat auch ganz bewusst Raum für Kitsch und Absurditäten gelassen, oft durch raffiniert ausgewählte Einflüsse: Der Versrhythmus von Summer Wave 98 zum Beispiel erinnert an den Sing-Sang-Schmalz der Millenium-Megahits von Vitamin C und LFO. Dieser Vorsatz, sich selbst nicht „zu ernst“ zu nehmen, manifestiert sich auch in den Texten von Brothertiger. Ich habe so gelebt, als hätte ich schon gewonnen / Seh ich aus, als ob ich schick wäre? singt er im Opener Tangerine, einem Track, der ein Vollgas-Synthesizer-Gitarrensolo à la Power-Ballade enthält – die Art von Song, die man vielleicht im Abspann eines großen 80er-Jahre-Blockbusters hört. „Der Versuch, das Musikgeschäft weniger ernst zu nehmen, zieht sich durch“, erklärt Jagos. „Ich versuche nicht, den spezifischen Idealen zu entsprechen, zu denen mich die Algorithmus-Maschine gerne machen möchte. Ich versuche einfach, Musik zu machen, die gut klingt.“ Wenn man sich die raumfüllenden Songs auf Brothertiger anhört, kann man mit Sicherheit sagen: es ist ihm gelungen.
*veranstaltet von Target
*präsentiert von der Milla
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13.09.2023
Einlass 19:00 // Beginn 20:00
VVK 20 € zzgl. Geb. // AK 25 €